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Shteyngart Morning Briefing der Podcast. Einen schönen guten Morgen allerseits. Mein Name ist Gabor Steingart und heute ist Samstag, der dritte Oktober 2020. Am heutigen Tag zelebrieren wir 30 Jahre deutsche Einheit.

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Es gibt noch ein zweites Bemerkenswertes, man kann auch sagen historisches Datum genau heute, vor zehn Jahren nämlich hat der damalige Bundespräsident Christian Wulff ein Satz gesagt, der eine kontroverse Debatte eröffnet.

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In seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 sagte er nämlich in Bremen Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.

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Was folgte, war eine hitzige Debatte über Integration und Identität in Deutschland. Eine Debatte, die im Grunde bis heute an. Genau darüber, über diesen Satz und über den Stand der deutschen Einheit hat meine Kollegin Alev Doğan mit Christian Wulff gesprochen. Alef wurde in Bad Honnef geboren, ihr Vater stammt aus Wie lässt sich eine Stadt am Fuße des Euphrat im äußersten Osten der Türkei gelegen, und ihre Mutter wurde in Izmir geboren. Das ist die große Hafenstadt an der türkischen Ägäis Küste.

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Hier stellt sich Alef am besten mal kurz selber vor.

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Mein Name ist Alex Dogan und ich meine Chefreporter. Beide Pionier. Ich arbeite von Beginn an beide Palina, weil ich finde, dass wir auch im Journalismus neue Wege gehen sollten. Mehr. Andere, neue Perspektiven. Ich bin Journalistin. Ich bin Deutsch-Türkin. Ich bin deutsche Staatsbürgerin. Ich bin neu Berlinerin. Und ich bin Muslimin.

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Sie hat den ehemaligen Bundespräsidenten in dieser Woche getroffen und mit ihm gesprochen. Auch über die Kritik aus den migrantischen Communitys an diesem einen Satz. Freuen Sie sich also auf ein kluges Gespräch mit einem nachdenklichen.

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Christian Wulff Herzlich willkommen bei uns auf der Pioneer ohne Herr Wulff. Schönen guten Tag, Herr Wulff.

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Vor genau zehn Jahren haben Sie einen Satz gesagt, der die Republik bewegt hat.

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Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.

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Ich möchte mit Ihnen heute diesen Satz Die Zeit davor und danach rekonstruieren, um daraus hoffentlich Erkenntnisse für unsere Gegenwart zu gewinnen. Haben Sie den Satz eigentlich selbst in die Rede geschrieben?

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Das war einer der Sätze, die ich selbst hineingeschrieben habe, weil Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter solche anerkennenden Sätze dem Bundespräsidenten nicht zumuten wollen. Er ist aber nicht auf meinem eigenen Mist gewachsen, sondern er kam von einem afghanisch stämmigen Deutschen mit Einwanderungsgeschichte, der meinem Umfeld geschrieben hatte, er fühle sich unwohler in Deutschland. Durch das Sarrazin Buch Deutschland schafft sich ab als zur Zeit der Anschläge in Mölln und Solingen. Jetzt habe er erstmals das Gefühl, dass wirklich in die Mitte der Gesellschaft hinein eine Antihaltung zu Muslimen zum Programm erhoben würde.

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Und er machte sich Sorgen. Und er würde anregen, dass der Bundespräsident auf diesen groben Klotz einen groben Keil setzt und ganz klar sagt Nicht nur Muslime sind hier geduldet, sondern die Muslime und der Islam gehören zu Deutschland, sind ein Teil dieses Landes. Und mit diesem Satz würde einfach ein Signal gegeben der Einladung an diese Menschen, dass sie hier gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger Deutschlands sind.

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Wie schwer haben Sie sich da mit dem Satz getan? Es muss Ihnen ja bewusst gewesen sein, dass er Auswirkungen haben würde und nicht nur positive.

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Fast mutiger war ja der Satz davor, als ich gesagt hatte Das Christentum gehört immer schon zu Deutschland, das Judentum gehört selbstverständlich zu Deutschland. Wenn man mal über den Satz nachdenkt Bei dem, was Juden erlebt haben sechs Millionen sind ermordet worden, dann wird schon deutlich, dass ich dem angefügt habe. Und inzwischen gehört auch der Islam zu Deutschland, dass man endlich Klugheit zeigt, dass man endlich aus Vergangenheit und Geschichte lernt, dass es vorbei ist mit Konflikten zwischen evangelisch reformiert und evangelisch lutherisch, zwischen evangelisch und katholisch, zwischen Christen und Juden.

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Dass wir einfach sagen, wir nehmen das Grundgesetz ernst. Jeder Mensch hat seine ihm eigene Würde unantastbar und jeder ist gleich. Und niemand darf diskriminiert werden. Und jeder kann glauben, was er will. Er kann den Glauben wechseln, er kann ihnen auch ausüben. Das ist Grundgesetz Artikel 1 bis 4 und darauf sollten wir uns für die Zukunft verständigen. Umso schneller wird das den Bürgerinnen und Bürgern sagen und das auch inhaliert wird, umso schneller kommen wir zu einer guten Form des Zusammenlebens in einer multiethnischen, multireligiösen, multikulturellen Gesellschaft.

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Der Aufschrei danach betraf ja aber vor allem den Satz, der sich um den Islam drehte und weniger um das Judentum, wogegen sich zumindest öffentlich nicht so viele in der Form geäußert hätten.

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Es war interessant, dass das Judentum in Deutschland sich extrem für diesen Satz bedankt. Die Spuren der Juden in Deutschland sind tatsächlich tausend sieben hundert Jahre alt. Die ältesten Spuren sind im dritten, vierten Jahrhundert in Köln und das ist nicht allen bewusst. Sie haben aber auch immer mitgetragen den Satz zum Islam, weil die Juden halt diese Erfahrung gemacht haben, als Minderheit allein zu stehen und froh sind, dass heute die Mehrheit zur Minderheit steht und das als Bereicherung unseres Landes betrachtet.

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Und nach den Erfahrungen der Juden haben sie eben schnell trotz aller Juden Kritik aus. Aus muslimischen Kreisen und Israelkritik, aus muslimischen Kreisen, was ja verschieden zu behandeln ist, haben sie trotzdem sich voll hinter die Muslime gestellt. Haben gesagt Der Satz ist auch zum Islam richtig. Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland. Ich hatte aus Minderheiten besonders viel Unterstützung. In dem Moment wussten wir noch gar nicht, was dann alles offenbar werden würde die NSU-Morde, die Anschläge, der Terror, der offene Rassismus, die Feindseligkeit gegen den Islam.

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Das war 2010 ja noch gar nicht in dem Umfang bekannt. Gerade die NSU-Morde wurden ja erst anschließend offenkundig.

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Haben Sie den Satz eigentlich deskriptiv gemeint im Sinne einer Feststellung? Oder war das auch normativ im Sinne einer Forderung von Ihnen?

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Für mich war es vor allem Feststellung und die Forderungen ergeben sich aus der Feststellung.

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Deutschland hat sich jahrzehntelang in die Tasche gelogen. Im Zusammenhang mit ausländischen Arbeitnehmern in Deutschland, die fälschlicherweise als Gastarbeiter bezeichnet wurden. Wer lässt denn schon Gäste für sich arbeiten? Aber dahinter stand die Überlegung Die gehen ja auch irgendwann wieder in die Heimat zurück und es hat keine dauerhaften Anforderungen an Politik. Und die Erfahrung war. Natürlich muss man dann sehen Die bleiben hier, die Kinder bleiben, hier werden. Deutsche sind Teil unseres Landes. Also muss ich von Anfang an das im Blick haben.

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Hatte man aber nicht. Da hat man sich quasi was vorgemacht. Und ich wollte nicht, dass man sich erneut etwas vormacht. Wir haben jetzt 4,5 5 Millionen Muslime in Deutschland und die gehören dazu mit den Moscheen, mit den Imamen, mit dem Religionsunterricht, mit ihren Feiertagen, mit ihren Festen, mit dem Ramadan. Und das muss die Gesellschaft wissen und muss auch rücksichtsvoll sein. Muss das als Bereicherung sehen. Muss das annehmen. Muss sich auch interessiert zeigen.

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Neugier entwickeln, weil man miteinander lebt. Das war der Forderungskatalog. Das hat Konsequenzen, wenn heute manche Kreise darüber schimpfen. Ich finde zurecht schimpfen, dass die DITIB Gemeinden zu abhängig von der Türkei sind, dann reicht das nicht, das festzustellen normativ, sondern die Forderung muss sich ergeben, dass man die Unabhängigkeit der Gemeinden forciert. Also hier Imame ausbildet, hier die islamische Theologie an Universitäten etabliert, damit hier in Deutschland ausgebildete, in deutscher Sprache das Freitagsgebet sprechende muslimische Theologen sind, die die Religion vertreten, als dass man die Abhängigkeit aufrechterhält.

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Aber das zeigt eben dieses Spannungsverhältnis von Feststellungen, Realitäten anerkennen und sich daraus ergebenden Forderungen, Konsequenzen, denen man sich widmen muss. Und da sind wir einfach zu schwerfällig, zu langsam und da können wir von Neuseeland oder von Kanada sehr viel lernen. Mir hat mal ein Konservativer aus Kanada gesagt Man kann Einwanderer ignorieren, man kann sie bekämpfen oder man kann sie gewinnen. Für unser Land, für die eigene Partei, für das Mitmachen, das Miteinander. Und ich habe mich klar entschieden, schon in jungen Jahren.

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Ich möchte Menschen als Bereicherung empfinden und ich möchte sie gewinnen. Ich möchte sie nicht ignorieren. Ich möchte sie nicht bekämpfen. Ich möchte sie gewinnen. Darum geht's. Und das haben die Menschen begriffen. Die haben es aufgenommen. Wir sind hier gewollt, gewünscht, anerkannt. Und das hat ganz viele Prozesse ausgelöst.

[00:09:26]

Vielen Dank an die beiden bis hier hin. Natürlich hat meine Kollegin Alev Doğan noch weiter mit Christian Wulff gesprochen, z.B. über Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab.

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Für Sarrazin haben die Leute Geld ausgegeben. Die haben 30 Euro gezahlt, um in irgendwelchen Messehallen zu hören. Das Buch ist anderthalb millionenfach verkauft worden. Sind immer wieder neue Bücher aufgelegt worden, um an den Erfolg anzuknüpfen. Das war ein riesen Businessmodell.

[00:09:52]

Und auch über die Morde der NSU.

[00:09:55]

Es sind Terroristen von Thüringen aus durch Deutschland gefahren und haben systematisch Menschen ermordet. Da war so ein Momentum, wo ich gedacht habe, jetzt muss sich in Deutschland alles verändern.

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Und auch über den politischen Mord an dem Regierungspräsidenten von Kassel, Walter Lübke, haben die beiden gesprochen.

[00:10:16]

Ich hatte mit ihm eine tolle Veranstaltung in Kassel mit 400 Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Ein wunderbarer Abend. Um Wochen später wurde er auf seiner Terrasse erschossen von Menschen, die es nicht ertragen können, dass Menschen mit Menschen menschlich umgehen.

[00:10:29]

Sollten sie Interesse an dem ganzen Gespräch haben, dann würde mich das sehr freuen. Ich würde sagen, es lohnt sich. Alev Doğan und Christian Wulff haben rund 30 Minuten miteinander gesprochen. Nachzuhören auf The Pionier Punkt D. Dieses Gespräch ist kostenpflichtig. Ja, ich weiß, das stört viele, aber ich glaube, es ist für einen guten Zweck und wir nennen diesen guten Zweck werbefreien und unabhängigen Journalismus. Und wenn das Geld für diesen Qualitätsjournalismus, an dem wir uns versuchen, wenn dieses Geld nicht von politischen Parteien, von zwangsweise erhobenen Gebühren oder den internationalen Großbanken kommen soll, dann kann es ja nur vom Bürgertum, also auch von Ihnen kommen.

[00:11:17]

Sie können ja mal darüber nachdenken. Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn Sie zu der Erkenntnis kämen Es lohnt sich, Pionier zu sein für sich selbst und für das Land. Genießen Sie diesen Feiertag. Feiern Sie das Geschenk der Einheit und bleiben Sie mir gewogen. Es grüßt Sie auf das Herzlichste. Ihr Gabor Steingart.